Mangelnde Evidenz als Gefahr für die Meinungsfreiheit
Lange Version
Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut, wenn nicht sogar einer der größten Bausteine für eine funktionierende, soziale, friedliche Gesellschaft, die es möglichst vielen Menschen ermöglicht, eine gewisse Kontrollfunktion über die Herrschenden auszuüben. Doch wie sollen wir umgehen mit der Meinungsfreiheit im Allgemeinen und speziell im digitalen Umfeld, in dem theoretisch jeder seine eigenen Inhalte – nicht immer mit den besten Absichten – verbreiten kann? Den Menschen eine moralische Eigenverantwortung zugestehen oder die Gratwanderung zwischen erlaubten und nicht erlaubten Inhalten weitergehen, immer mit der Gefahr, dass legitime Inhalte einer Löschung unterzogen werden oder illegitime Inhalte eine Vielzahl an Menschen erreichen?
Es ist oft zu hören, dass zu viel Freiheit für Meinungsäußerungen die Demokratie gefährden würde und zu einer gefährlichen Spaltung und Polarisierung der Gesellschaft führt. Doch fehlt nicht genau bei dieser Aussage eine fundierte Evidenz? Will man der Bevölkerung nicht mehr zugestehen, sich anhand möglichst vieler unterschiedlicher Sichtweisen eigenständig ein möglichst vollständiges Bild diverser Sachverhalte zu machen? Man weiß ja nicht einmal, wie groß der Anteil unter denjenigen ist, die von fragwürdigen Inhalten erreicht und dadurch angestachelt kriminell werden. Warum wird dann so viel in den Kampf gegen Hass und Hetze investiert, dass die Zensur auch Unschuldige trifft? Man könnte hier auch eine Parallele zur Corona-Krise ziehen. Bei all den eingeführten Kontrollmechanismen der Meinungen im Internet ist es ein bisschen so wie mit der Maskenpflicht. Es fehlt an evidenzbasierten Entscheidungen, welche im Falle der Redefreiheit letztinstanzlich der Rechtsstaat zu fällen hat.
Wenn man im Freundeskreis Worte hört wie „Es ist das größte Problem, dass jeder im Internet schreiben kann, was er will“, dann ist allein das schon ein Zeichen dafür, dass die Warnungen vor einer überzogenen Einschränkung der Meinungsdiversität keine leeren, evidenzlosen Worthülsen sind. Andererseits zeigen Morddrohungen, Beleidigungen auf persönlicher Ebene bis hin zu Rufmordkampagnen, Hass und Hetze, dass auch Warnungen vor zu viel an Freiheit für Meinungsäußerungen nicht völlig unbegründet sind.
Die Warnung vor einer Gefahr durch ein Zuviel an Freiheit der Meinung ist statistisch gesehen eine Jammerei auf sehr hohem Niveau. Wie viele Postings werden jeden Tag in den Äther geschickt und wie viele davon sind tatsächlich strafrechtlich relevant? Wenn man zusätzlich noch bedenkt, dass unter den strafrechtlich relevanten Beiträgen viele nicht klar zuzuordnen sind, vielleicht sogar in die Welt gesetzt wurden, um den Anschein zu erwecken, von einer bestimmten Gruppe zu stammen, in Wahrheit aber unter falscher Flagge abgesetzt wurden, bleibt ein recht kleiner Anteil an wirklich bedenklichen Inhalten übrig. Unabhängig von allerlei Unwägbarkeiten ist die tatsächliche Zahl gefährlicher Inhalte schwer zu fassen. Dabei ist die Reaktion der Empfänger solcher Inhalte noch gar nicht berücksichtigt, die noch viel schwerer zu messen ist.
Corona, Verschwörungen, Leugner und falsche Experten
Gerade in der sogenannten Corona-Krise haben sich Themengebiete herausgestellt, an denen sich die Geister scheiden. Dieser Kampf zwischen unterschiedlichen Meinungen manifestiert sich in dem, was oftmals als „Spaltung der Gesellschaft“ bezeichnet und nicht selten als katastrophale Gefahr für die Demokratie oder die Gesellschaft wahrgenommen wird. Dabei wird immer klarer ersichtlich, dass für solche weltuntergangsartigen Szenarien die Evidenz auf sehr wackeligen Beinen steht. Das liegt schon allein daran, dass es keine klare Definition von Spaltung gibt, da sie sich in vielen unterschiedlichen Formen manifestieren kann. Doch dieses Thema wäre einen eigenen Text wert und soll hier nicht weiter behandelt werden.
Die größten Streitpunkte scheinen im Moment das Thema „Rassismus“, der teils als „strukturell“ wahrgenommen wird, Impfen, der Klimawandel, COVID-19, wobei sich hier die Geister am schärfsten an der Maskenpflicht scheiden, und sogenannte Verschwörungstheorien zu sein. Die fortschreitende Digitalisierung spielt auch eine Rolle – insbesondere die 5G-Technologie und künstliche Intelligenz -, doch vor allem im Moment scheint dieser Themenschwerpunkt nicht so sehr zu polarisieren wie manch anderer. Was „Verschwörungstheorien“ betrifft, zeigt sich ein Trend, alles, das weder strafrechtlich noch moralisch verwerflich ist, als verschwörungstheoretisch zu brandmarken, wenn es weder als linksextrem noch als rechtsextrem zuordenbar ist und auf den ersten Blick nicht in das allgemein anerkannte Weltbild passt. Tatsächlich verschwörungstheoretische Inhalte sind in einem Raum zwischen dem, was definitiv erlaubt ist, und dem, was definitiv verboten ist, angesiedelt. Allerdings ist gerade in der Coronazeit auffällig geworden, dass sogar angesehene Wissenschaftler oder Mediziner in die verschwörungstheoretische Ecke gedrängt wurden, bis hin zur Löschung von Inhalten, die weder strafrechtliche Relevanz aufweisen noch moralisch verwerflich sind. An dieser Stelle sei unter anderem an Prof. Dr. Sucharit Bhakdi, Dr. Martin Haditsch, Dr. Konstantina Rösch, John Ioannidis, Prof. Hendrik Streeck oder Prof. Stefan Homburg erinnert.
Wie umgehen mit der Redefreiheit?
Gerade in der Corona-Zeit war das Wort „Eigenverantwortung“ in aller Munde. Dieses Prinzip sollte verstärkt auch bei Meinungsfreiheit im Internet angewandt werden, obwohl das echte und das digitale Leben im Internet nicht vergleichbar sind. Wenn ich im echten Leben mit jemandem rede und mein Gegenüber beleidige, dann kann ich direkt darauf hingewiesen werden und mich entschuldigen. Meistens stellt sich eine Beleidigung ohnehin als ein Missverständnis heraus. Das funktioniert im echten Leben viel schneller als im Internet, wo zuerst jemand etwas liest, das Gelesene interpretiert, danach eventuell seine Meinung dazu abtippt, woraufhin der Urheber des ursprünglichen Textes wiederum eventuelle Fehlinterpretationen richtigstellen muss und so weiter. Im echten Leben bleiben Worte oft in privatem oder kleinem Rahmen, wohingegen über das Internet viel mehr Leute erreicht werden können, in Windeseile, nahezu in Echtzeit, egal wo auf der Welt man sich gerade befindet, vorausgesetzt man hat einen funktionierenden Internetanschluss. Die Mehrheit der Leute hat jedoch einen moralischen Kompass, der ihnen gebietet, weder online noch offline mit Beleidigungen um sich zu werfen. Wie so oft muss die Mehrheit unter dem Fehlverhalten einer Minderheit leiden.
Eine weitere Möglichkeit sind definitiv die sogenannten Faktenchecks, die seit dem Start von Donald Trumps Präsidentschaft in aller Munde sind. Momentan funktioniert dieses Werkzeug nicht so wie es sollte. Ich formuliere es so: wenn man schon den Faktencheck faktenchecken muss, um zu checken, ob wirklich alle Fakten berücksichtigt wurden, dann weiß man, dass noch viel Arbeit vor uns steht auf dem Weg zu einem besseren Umgang mit der Redefreiheit. Das gilt nicht für jeden Faktencheck, aber es gibt leider einige, die aus irgendwelchen Gründen nicht alle relevanten Fakten checken, sondern auf wichtige Aspekte vergessen, was schon mal passieren kann, wenn man unter Zeitdruck arbeitet. Zum Teil kann man sich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, dass mit einer fast schon arroganten, moralischen Überhöhung ans Werk gegangen wird, um andere Meinungen auf irreführende Art und Weise ins Lächerliche zu ziehen.
Wenn die Meinungsfreiheit nicht in Gefahr geraten soll, dürften wir eigentlich keine Einschränkungen von Gedankengut im Internet vollziehen, denn die Gedanken sind frei. Wem in seinem Leben noch nie ein seltsamer Gedanke durch den Kopf gegangen ist, der werfe den ersten Stein. Wir alle tragen eine dunkle Seite in uns. Das Internet eröffnet die Chance, sie herauszulassen, ohne im echten Leben irgendjemandem physischen Schaden zuzufügen. Allerdings äußern sich dann auch Gedanken, die lieber unausgeschrieben oder unausgesprochen in den Köpfen ihrer Urheber geblieben wären. Doch muss eine Gesellschaft nicht auch Kontroversen aushalten, um sich auf dem Weg zu einem besseren Miteinander weiterzuentwickeln? Nur aus Fehlern lernt man. Wenn die Fehler ausgelöscht werden, wie sollen wir dann aus ihnen lernen? Das wäre in etwa so, wie wenn jemand eine Erinnerung aus meinem Gehirn entfernen würde, die mir dabei hilft, meine Hand nicht mehr auf eine heiße Herdplatte zu legen.
Natürlich müssen Sünder bestraft werden, da führt an Löschungen und Sperren kein Weg vorbei, vor allem wenn mutwilliges, destruktives Verhalten die Debattenkultur gezielt zu zerstören versucht, wenn gemobbt oder mit Mord gedroht wird oder dezidiert verletzende Beleidigungen geäußert werden. Allerdings müssen Löschungen einen evidenten Sinn ergeben. Sie dürfen genauso wenig mutwillig und destruktiv geschehen. Es muss völlige Transparenz über die Gründe von Löschungen und Sperren herrschen, ansonsten sind rein politische Gründe hinter der Löschung zu vermuten, die rein gar nichts mit dem Versuch zu tun haben, etwas Gutes für die Gesellschaft zu bewirken. Das Internet als riesiges digitales Gehirn zu sehen, aus dem man nichts löschen sollte, ist in diesem Sinne vielleicht keine elegante Analogie, lässt sich aber vor allem auf Fälle anwenden, in denen ohne sinnvolle Begründung ein Abdriften in Löschorgien zu beobachten ist.
Ein großes Problem bei der Diskussion über Meinungsfreiheit ergibt sich aus der Tatsache, dass viele als politische Kampfbegriffe missbrauchte Worte im Umlauf sind und ohne fundierte, statistische Evidenz agiert wird. Es wird gesagt, dass es um die Erhaltung der Demokratie oder um den Kampf gegen Hass geht, doch bewirkt man mit Löschungen oftmals genau das Gegenteil. Es scheint generell ein Problem der Menschheit zu sein, dass sie zu viel kontrollieren will. Vom Wetter bis zu Gedanken im Internet. Das erinnert unweigerlich an „Minority Report“, wo schon ein falscher Gedanke reicht, um als potentieller Schwerverbrecher verfolgt zu werden.
Natürlich gibt es Meinungen, die mit nicht unbedingt guten Absichten als diskursfähig dargestellt werden sollen, aber im Diskurs nichts verloren haben. Es sollte zum Beispiel diskussionslos für jeden selbstverständlich sein, dass durch die Stadt zu laufen und wahllos über Menschen oder Tiere herzufallen, keine gute Sache ist. Falls jemand allen Ernstes der Meinung ist, es sei gut, andere Lebewesen zu quälen, sollte diese Ansicht mit sofortiger Wirkung zu rechtsstaatlichen Konsequenzen führen. Wenn jedoch schon vor einer möglichst objektiven Bewertung von Inhalten durch den Rechtsstaat Teile der Medien, Teile der Politik und Hobbyjuristen sowie Hobbypolizisten aus der Zivilgesellschaft die Grenzen der Meinungsfreiheit auf eine Art und Weise bewerten, die andere Menschen ins Lächerliche zieht, sie auf persönlicher Ebene zutiefst beleidigt oder gar ihre Karrieren ruiniert, dann führt sich das Konstrukt des Staates ad absurdum, insbesondere deshalb, weil bei den COVID-19-Maßnahmen so ziemlich allen vor Augen geführt wurde, dass das Recht der Politik folgt, die Politik also den Rechtsstaat formt.
Wenn Meinungsäußerungen aus Angst vor einem digitalen Mob in Zuckerwatte verpackt werden müssen und damit so indirekt werden, dass vielleicht 90 Prozent des Publikums sie nicht mehr verstehen, dann generiert sich ein digitales Abbild der öffentlichen Meinung, das mit Realität soviel zu tun hat wie ein Babyelefant mit Milchschokolade. Wer seine Meinung offen äußert, muss selbstverständlich auch mit harter Kritik rechnen, wobei es immer wünschenswert ist, den Diskurs frei von abwertenden Äußerungen oder Beleidigungen zu halten und sachlich zu bleiben. Ein scharfer, beleidigender, unsachlicher Diskurs sollte zwar erlaubt sein - mit vom Rechtsstaat, aber auch vom moralischen Kompass jedes einzelnen Menschen vorgegebenen Grenzen -, allerdings ist er nicht wünschenswert.
Teile der Medien und der Politik sowie Teile der digitalen Zivilgesellschaft üben Druck auf die öffentliche Meinungsäußerung aus, generieren Vorverurteilungen, ehe der Rechtsstaat entschieden hat, sogar in Fällen, wo weder der Rechtsstaat noch der Moralkompass Alarm schlagen müssten. Dabei ist eine Entmenschlichung zu beobachten, nach der nicht mehr ein zu respektierendes Individuum hinter einer legitimen Meinung gesehen wird, sondern ein digitales Monster. Mit der Ausgrenzung von zu duldenden Meinungen leistet man jedoch einen gehörigen Beitrag zu radikalen Tendenzen. Erst das unsichtbar oder lächerlich machen unliebsamer Meinungen erhöht die Gefahr einer Radikalisierung, insbesondere dann, wenn die Meinungen zwar verrückt anmuten, aber niemandem wehtun.
Was diejenigen machen, die meinen, Meinungsfreiheit müsste noch stärker kontrolliert werden, wirkt ungefähr so, als ob ich wegen Zahnschmerzen bei einem einzelnen Zahn zum Zahnarzt gehe und mir dort dann das gesamte Gebiss entfernt wird, um nicht die Gesundheit vom Rest meines Körpers zu gefährden.
Nachteile der Digitalisierung
Medien - seriöse und weniger seriöse – schwimmen mehr oder weniger erzwungenermaßen auf der Digitalisierungswelle mit, präsentieren sich auf Twitter, Facebook und Konsorten. Das gibt dem Publikum viel mehr Möglichkeiten, mit Medien zu interagieren, genauso wie es den Medien mehr Möglichkeiten gibt, mit dem Publikum zu interagieren und mehr Reichweite zu generieren. Allerdings verstellt das den Blick auf das Wesentliche: die Vermittlung der Fakten. Gleichermaßen erhöht es den Blick auf einen Teil des finanziell Wesentlichen: die Klick- und Abozahlen. Das ist keine ungefährliche Entwicklung. Medien halten sich mehr an das, von dem sie glauben, dass die Mehrheit ihrer Leser es lesen wollen. Je mehr Leser gehalten werden, umso besser die finanzielle Absicherung. Dabei driftet der Journalismus in meinen Augen zu sehr in das Erzählen von möglichst unterhaltsamen Geschichten ab. Die Vermittlung von möglichst objektiven Fakten wird in den Hintergrund gedrängt, weil die vermeintliche Mehrheit des Publikums es so will. Doch weiß man wirklich so genau, was die Mehrheit will? Ist es immer ratsam, sich verstärkt nach der Mehrheit zu richten, obwohl wir doch in einer Gesellschaft leben, die den Schutz von Minderheiten propagiert? Die vermeintliche Mehrheitsmeinung wird stärker gewichtet als eine teilweise polarisierende, eventuell kontroverse Minderheitsmeinung, aus Angst vor einem Verlust der Reichweite, der Glaubwürdigkeit, der Finanzierung.
Wo früher nur Leserbriefe eintrudelten, kommen nun Rückmeldungen über viele Kanäle: das Forum der Webseite einer Zeitung, Mails, Facebook- oder Twitter-Beiträge. All diese Rückmeldungen lassen jedoch mitnichten einen Schluss auf die allgemeine Befindlichkeit der Leserinnen und Leser zu. Dabei verzerren mehrere Faktoren das Bild auf die öffentliche Meinung. Einerseits sind nur wenige Leserinnen und Leser aktiv an den Debatten beteiligt. Man sieht also nur einen kleinen Teil der Meinung der Öffentlichkeit. Zweitens sieht man innerhalb eines Medienhauses tendenziell nur die Meinungen des eigenen Publikums. Drittens gibt es genügend Trolle, die Postings unter falscher Flagge absetzen oder gar für politische oder wirtschaftliche Interessengruppen arbeiten, um das Bild der öffentlichen Meinung gezielt zu verzerren. Zusätzlich ergibt sich folgendes Problem: Wenn die Außenwelt die Realität so wahrnimmt, wie sie ihnen medial vermittelt wird, dann ist die öffentliche Meinung dadurch in einer Art und Weise verfälscht, dass man sie nicht mehr evidenzbasiert messen kann.
Der Graubereich
Der schwer zu erfassende Bereich zwischen rechtsstaatlich verbotenen Inhalten und absolut legitimen Meinungsäußerungen hat ein großes Problem. In diesen „Korridor“ werden Dinge geschoben, die dort gar nichts verloren haben. Das geht sowohl von der Seite aus, die sich am Rande des rechtlich erlaubten Rahmens bewegt, als auch von der sozusagen gemäßigten Seite. Die eine Seite versucht, Dinge in den Diskurs zu bringen, die dort vielleicht gar nicht hingehören. Die andere Seite versucht, Dinge aus dem Diskurs zu verdrängen, die sehr wohl diskutiert werden dürfen oder sollten.
Beim öffentlichen Diskurs über wissenschaftliche Themen sieht man relativ gut, wo der Hase falsch läuft. Der Klimawandel findet statt. Wie stark welcher Faktor ihn beeinflusst und wie genau er ablaufen wird, ist allerdings nicht so klar, wie suggeriert wird. Es reicht, festzustellen, dass Panikmache nicht zielführend und übertrieben ist und man gilt als „Klimaleugner“. Das Thema Impfungen ist auch ein gutes Beispiel. Man muss nur die diskutierte Impfpflicht gegen COVID-19 kritisieren und gilt schon als militanter „Impfgegner“, obwohl man alle wichtigen Impfungen intus hat.
Solcherart verhärtete Fronten sind definitiv ein Problem digitaler Filterblasen, die sich quer durch alle Gesellschaftsschichten bilden, auch deshalb, weil jeder von uns bis zu einem gewissen Grad in seiner eigenen Realität lebt. Deshalb sehe ich ein großes Diskurs-Problem in der Tatsache, dass sich Debatten heutzutage zu stark digital abspielen. Dabei kommt es leicht zu Missverständnissen, die einen entrüsteten Sturm an destruktiver Kritik auslösen können. Viele sehen nicht mehr den Menschen hinter einem Kommentar oder einem Beitrag in einem sozialen Netzwerk. Online-Debatten sind auch nicht mit Debatten von Angesicht zu Angesicht vergleichbar. Offline bleiben die Debatten in privatem Rahmen, online sind sie für viele Menschen sichtbar. All das verzerrt die Sicht auf das öffentliche Meinungsbild. Ein einzelner Kommentar kann auch nie das vollständige Weltbild eines Menschen erfassen. Aus dem Kontext gerissen hat das gar nichts zu bedeuten. Das vergessen scheinbar auch viele Teilnehmer an Debatten via Facebook oder Twitter. Sie bilden sich Meinungen über Menschen, die sie gar nicht persönlich kennen, rein durch mediale Berichterstattung über oder Online-Auftritte von diesen Personen.
Verschwörungstheorien sind ein gutes Beispiel für Themen, die in den Korridor zwischen verboten und erlaubt fallen. Wenn jedoch bei verschwörungstheoretischen Inhalten nicht einmal klar zwischen Fakt und Theorie unterschieden wird oder werden kann, dann fehlt die Evidenz, dass sie pauschal eine Gefahr für die Demokratie oder die Gesellschaft darstellen. Die Rolle der medialen Berichterstattung oder der Politik bei der Züchtung von Verschwörungstheorien spielt zu wenig bis gar keine Rolle in der Debatte. Mangelnde Transparenz treibt Menschen erst dazu, Fragen zu stellen. Teilweise werden gezielt Provokationen verfasst, die erst zu bedenklichen Postings oder Taten führen, die vermeintlich mit Verschwörungstheorien zusammenhängen. Viele Aussagen, die streng genommen verschwörungstheoretisch sind, werden als allgemein anerkannter Konsens betrachtet. Gleichzeitig werden Aussagen, die nichts mit Verschwörungstheorien zu tun haben, in die gleiche Schublade wie echte Spinnereien gesteckt. Die Daten sind also unreiner als ein seit Jahren ungewaschener Pullover. Die Gefahr von Verschwörungstheorien lässt sich rein anhand vorhandener Daten qualitativ und quantitativ nur schwer untermauern. Daten lassen allerdings darauf schließen, dass eine Stigmatisierung gewisser Ansichten erst zu radikalen Tendenzen in der sogenannten Gegenöffentlichkeit führt.
Folgende Analogie veranschaulicht eventuell ein Grundprinzip der Problematik. Wenn Trump sagt, die Erde dreht sich um die Sonne, dann werden seine Anhänger ihn bejubeln und seine Gegner werden sagen, er sei ein Spinner und verbreite Falschnachrichten. Wenn Barack Obama verlautbart, die Erde sei eine Scheibe, werden seine Anhänger von heute auf morgen ihr Weltbild auf den Misthaufen schmeißen und zu Verschwörungstheoretikern mutieren. Das ist grob vereinfacht dargestellt, aber nach gründlicher Differenzierung ein durchaus legitimer Weg aufzuintegrieren.
Fazit
Sündenböcke für Fehlentwicklungen, wie das schwindende Vertrauen in Medien und Politik oder diverse Arten von Spaltung und Polarisierung, sind schnell gefunden. Allerdings ist die Benennung Schuldiger ohne valide Evidenz und mit einer bestenfalls lückenhaften Datenlage im schlimmsten Fall gefährlich. Denn nicht das, was in Teilen der Medien steht, was von Teilen der Politik geäußert wird oder was Teile der digitalen Zivilgesellschaft äußern, zählt. Es zählt allein ein möglichst sachlicher und wissenschaftlicher Zugang, ohne Politisierung oder Skandalisierung.
Wo ist die Evidenz größer? Bei den Warnern vor einer Einschränkung der Meinungsvielfalt oder bei den Warnern vor einer Gefahr für die Demokratie, wenn man zu viel Freiheiten gibt? Wenn sogar angesehene Professoren, Wissenschaftler oder Prominente wegen „abstruser“ Meinungen mehr oder weniger sozial geächtet werden, ohne rechtsstaatlich relevante Straftaten verübt oder moralisch verwerfliche Äußerungen getätigt zu haben? Vertraue ich eher Experten, die andere Experten als falsche Experten bezeichnen, oder doch lieber den Experten, die als „falsch“ angegriffen werden? Die Meinungsfreiheit ist definitiv in Gefahr, wenn sogar anerkannte Experten ins Lächerliche gezogen werden und damit ihr Ruf und ihre berufliche Karriere zerstört werden. Das hat nichts mit Verteidigung der Demokratie zu tun. Jeder kann sich seine eigene „Meinung“ darüber bilden, wo nun die Evidenz größer ist, für wen die Statistik spricht. Doch Vorsicht: Zahlen lügen nicht, Menschen aber schon.
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